Der indische Student

Aus Open-Punk

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Das Gewitter zog weiter. Die Herrschaften wiesen die Boten an, die Gartenmöbel an ihre Plätze zurückzustellen, was diese livrierte Bande mit einer Arroganz und einem Ekel in der Visage tat, als hätte man sie Aufgefordert, mit ihren knochigen Fingern eine Latrine zu reinigen. In der kleinen, unaufgeräumten Kammer unter dem Dach saß Er über seinen Büchern, auf welche er sich doch nicht konzentrieren konnte.

Indien fehlte ihm, die Gerüche, das Treiben in den Straßen, der Lärm und die Unordnung, die Affen, die stinkenden Fakire, und natürlich, sie. Mina, seine zarte, mandeläugige Blume. Neunzehn Jahre und das wertvollste Stück Mensch, welches unter der Sonne Indiens wandelte. Welch grausames Schicksal hatte ihn nach London getrieben? Es war der Ergeiz. Der Beste wollte er sein, studieren und als gemachter Mann heimkehren. Er war ahnungslos, als dummer Junge mit schmutzigen Windeln auf dem Kopf nach London gekommen, war beglotzt und auf dem kargen Hof den elitären Schule von Südlondon verprügelt und verspottet worden.

Vor gut fünf Jahren hatte er den Herrn getroffen, als dieser Indien bereiste. Der Herr hatte rasch seinen Wissensdurst und seinen Scharfsinn erkannt, sowie seine Auffassungsgabe zu schätzen gelernt. So ver- wunderte es nicht, dass er ihn zum Studium mit nach London nahm, als er dessen Interesse an der Medizin und der Heilkunst begriff. Schon damals war sein englischer Sprachschatz brauchbar, da er als Gehilfe eines Arztes der Britischen Kolonialherren arbeitete.

Und nun war Weihnachten, die Herrschaften hatten den Salon eindecken lassen und erwarteten ihn als ihren exotischen Gast zum siebzehn Uhr Sherry.

Wütend fegte er das Buch vom Tisch, zum Lernen war er zu bitter, seine Gedanken,- vergiftet. Seine unerfüllte Liebe brannte auf einem anderen Kontinent, der ihm immer fremder erschien, je heimischer er hier wurde. Doch so fremd ihm Indien wurde, seine Liebe zu Mina loderte weiter in ihm und quälte ihn Stunde um Stunde.

Claire, die Tochter der Exteters, welche sich hier die Hausherren nennen durften, weil sie es schließlich waren, versuchte ihn mit ihren Reizen zu locken. Sie hatte ein extravagantes Parfum aufgelegt und ein gewagtes Kleid angezogen, auch wenn es ihrem Vater nicht zu gefallen schien. Salib war in den letzten Tagen so melancholisch und schüchtern gewesen, dass sie ihm eine winzige Freude machen wollte. Außerdem war sie heimlich etwas verliebt in diesen eigenartigen Burschen, der noch immer nicht so ganz zuhause in London werden wollte. Seltsamerweise schien er ihre Liebe nicht zu erwidern, obwohl sie, mit der Zeit, doch zu einer schönen Frau herangewachsen war, die alle Reize bieten konnte, welche den Männern sonst so gut zu gefallen schienen.


Zu oft hatte sie ihn beobachtet, wenn er mit ihrem Vater am Kamin saß und über die neuesten Erkenntnisse in der Forschung und der Medizin sprach. ....

Kurz nach zehn hatte sich die Familie mit einigen Freunden und Gästen im Salon versammelt, nur Salib war noch nicht erschienen. Nach einiger Überlegung kam man zu dem Schluss, dass Salib noch über seinen Aufzeichnungen saß und man ihn nicht stören wolle. Sein Studium nahm der Kaffeebraune Gast sehr ernst und sein Ehrgeiz hatte sich in der Illustren Runde herumgesprochen.

„Der Neger wird uns alle noch ganz schön dumm aus der dreckigen Wäsche gucken lassen, wenn der hier am Trafalgarquare seine Praxis aufmacht um dort unsere keuschen Frauen und Töchter zu schwängern, das dreckige Schwein!“

Natürlich konnte General Berkins nicht mit seiner Meinung über Ausländer, und Inder im Speziellen, hinter dem Berg halten. In seiner Paradeuniform wirkte er wie eine dieser Karikaturen aus der Times, wenn irgendein aufgeblasener Fettwanst wieder mal zum Krieg trötete, während er in London bleibt, um das königliche Büfett leer zu fressen.

Um die peinliche Situation nicht noch bizarrer werden zu lassen, blieb seine Meinung unkommentiert. Die umstehenden Gäste kippten den verfügbaren Alkohol in sich hinein, als ob sie morgen in die Schlacht ziehen müssten, gegen einen Gegner, wohlgemerkt, gegen den sie nicht den Hauch einer Chance hätten.

Zur Bescherung, um Mitternacht, würde man den kauzigen Inder rufen lassen, schließlich lagen auch für ihn zwei nette Päckchen mit hübschen Geschenken bereit. Eine kleine Kapelle spielte gediegene, klassische Musik und die Gespräche wurden - mit zunehmendem Genuss alkoholischer Getränke - immer ausgelassener und die Themen immer schlüpfriger.

Claire begann sich rasch zu langweilen, ihre Gedanken wanderten zu Salib. Er war immer so ehrgeizig und auf eine ungreifbare Weise traurig, selbst am Heiligen Abend. Die anwesenden jungen Männer waren zwar charmant und zuvorkommend, aber uninteressant bis in die gewienerten Schuhspitzen. Reiche Snobs, welche noch verstaubter wirkten, als deren ganze, bucklige Verwandtschaft. Der Lärm aus dem Salon musste ihn bei seiner Arbeit stören, wie konnte der arme Teufel denn bei solch einer Geräuschkulisse Arbeiten? Das arme Wesen, dort oben, musste sich doch gestört fühlen, und schlussendlich aufkreuzen um resigniert mitzufeiern, oder, schlicht wahnsinnig werden, sein Tintenfass leer saufen und die wertvollen Lehrbücher in seinen winzigen Ofen stecken. Bevor er hier unten auftauchte, um die ganze, besoffene Bande mit seinem Buschmesser abzuschlachten. Auch in der nächsten viertel Stunde nahm der Lärm nicht ab, trotzdem war er noch immer nicht erschienen. Als um kurz vor Mitternacht die Pastete aufgetragen wurde,

verstummten die Gespräche und die Blicke wanderten erwartungsfroh zu den Bergen von Köstlichkeiten, welche nach und nach aufgetafelt wurden.

Die Musiker machten eine Pause, um einen Imbiss einzunehmen, als man Schritte vom Dachboden hörte.

Der arme Salib schien über einem Problem zu brüten.

Minutenlang lief er dort oben auf und ab, auf und ab. Jeder im Raum schien den Schritten zu lauschen. Claires Vater meinte, „nun ist es aber an der Zeit, den armen Jungen zu holen, es sei schließlich das Fest der Liebe.“

Ein, genervt wirkender Butler eilte nach oben, in der Hand hielt er ein silbernes Tablett, welches, wenige Augenblicke später, scheppernd zu Boden fiel.

„Gut das da keine Getränke drauf waren,“ meinte Sir Bob, was das hysterische gegacker seiner reichlich dämlichen, und dazu noch alkoholisierten Frau zur Folge hatte.

Leichenblass kam der Knecht einige Momente später zurück zu der Versammlung.

„ER IST TOT !“, keuchte der Wicht, dann brach er ohnmächtig zusammen.

„Wo ist denn der Medizinmann, ja, wofür lädt man denn die ganze Bande ein,“ wollte Claires Onkel Rob wissen. Emotionen waren ein rares Gut, mit welchem man nicht zu verschwenderisch umgehen sollte, war seine feste Überzeugung. Dr. Buggler wirkte wegen dieser Bemerkung etwas zerknittert, trotzdem stürzte er die Stufen zur Kammer herauf. Rasch untersuchte er den armen Inder, auch wenn er seine Doktorentasche heute nicht mitgebracht hatte. Tot, war schnell das Ergebnis seiner Untersuchung. Ein Inder, der sich nicht auf seine Studien konzentrieren konnte, und der sich daher an einem Dachbalken erhängt hatte.

Mit schreckgeweiteten Augen kam er Minuten später nach unten. Bevor er etwas sagen konnte, stürzte er drei Gläser Sherry hinunter. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, ließ er sich auf einen der Stühle sinken. Sein Blick war nach innen gerichtet, als er endlich zu reden begann.

„Er ist tot, seit mehreren Stunden. Daran besteht kein Zweifel. Was mich aber bis ins Mark getroffen hat, ist die Erkenntnis, dass er nicht weniger als eine, nicht geringe Anzahl an Stunden tot sein kann, er ist schon ziemlich kalt, was ein untrügliches Zeichen für sein nicht erst kürzlich eingetretenes Ableben ist!“.

Bleiernes Schweigen legte sich auf die Versammlung. Der Festbraten und die köstlich aussehende Pastete wurde kaum angerührt. Keinem der Gäste, auch nicht dem Fettesten, oder Gierigsten, war mehr nach Essen zu Mute. Salib war zwar Ausländer, aber nicht gerade unbeliebt in diesem Hause, zumindest bei einem großen Teil dieser illustren Runde. Sir Edward, ein staubiger, konservativer Knochen, meinte zu seiner Gattin, dass sie doch besser zu den Krugers nach Hampsted gegangen wären, dies sei keine nette Party.

Sie hüstelte nur und warf ihm einen Blick zu, als wäre er gerade aus einem Loch in der Wand gekrabbelt, sodass er sich wegdrehte um einen Butler mit einem Tablett voll hochprozentigen Getränken zu verfolgen.

Eine Fette Wachtel in einem roten Kleid, welches sie aussehen ließ, wie einen nett verpackten Medizinball, täuschte so schlecht Betroffenheit vor, dass sich so recht keiner der Umstehenden, um das dillethantische Klageweib kümmern wollte.

Die Pastete blieb in ihrer Ursprungsform, der Getränkekeller wurde noch einige Zeit strapaziert, dann löste sich die Runde auf. So richtige Partylaune wollte bei keinem der Gäste mehr aufkommen, und außerdem gab es in der Stadt noch andere Festlichkeiten, bei welchen man als verspäteter Gast durchaus noch Spaß haben könnte.


Der Leichnam des indischen Studenten wurde im Gästetrakt aufgebahrt. Claire vergoss nicht wenige, bittere Tränen, des Verlustes und der nicht erwiderten Liebe.

Was die Familie jedoch besonders Verstörte war der Umstand, das unablässig Salibs Schritte vom Dachboden zu hören waren. Die Schritte, die er grübelnd ging, bevor er seinem Leben durch einen Strick ein zu frühes Ende bereitete. Irgendein betrunkener Scherzbold konnte es nicht sein, schließlich war einer der faulen Diener vor der Tür

seiner Kammer postiert, mit dem Auftrag, niemanden Einlass zu gewähren, bis die Herren von Scotland Yard eingetroffen waren.

Wenige Tage später war der Indische Student auf einem kleinen Friedhof in Islington beigesetzt.

Dieser Leichenacker war extra für Selbstmörder, Verbrecher, und nicht Briten reserviert. Claire weinte während der ganzen Trauerfeier. Ein Brief und etwas Geld wurden an Salibs Familie nach Indien geschickt.

Nachdem der Student aus dem Haus geschafft war, verstummten auch die Schritte.

Die Tür zum Dachboden hatte man, nachdem der Pfarrer den Raum noch einmal geweiht hatte, zumauern lassen. Niemand wollte diesen unheiligen Raum je wieder nutzen, oder nur betreten.

Dies war das letzte große Fest, welches in der alten Prachtvilla am Hannover Square gefeiert wurde. Im Jahr darauf wollte die Familie in kleinem Kreis allein feiern, doch gegen achtzehn Uhr begannen sie, die Schritte vom Dachboden zu hören, auf und ab, auf und ab. Als ob der Geist des indischen Studenten noch nicht ganz Abschied nehmen wollte, und, um sie an sein schweres Schicksal zu erinnern.

Die Schritte des armen Studenten, der in seiner Grübelei auf und ab ging, bevor er sich das viel zu kurze Leben nahm, sind noch heute, an jedem Weihnachtsabend vom versiegelten Dachboden zu hören.

Claires Mutter musste in ein Irrenhaus gebracht werden, in welchem sie ihre letzten Jahre verbrachte. Die Aufregung des unheimlichen Geschehens waren schlicht zu viel für ihr zartes Nervengerüst. Claires Vater ließ sich von seiner kranken Frau scheiden und ehelichte eine neunzehnjährige Frau mit zweifelhafter Vergangenheit aus Soho. Man sagt, dass Salibs gequälte Seele keine Ruhe findet, dass der indische Student dazu verdammt ist bis ans Ende aller Tage am Weihnachtsabend auf und ab zu laufen.

Auf und ab.... .

Ende


Diese Geschichte ist aus dem

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